Was für ein Mensch ist Julian Assange? Wer sind seine Vorbilder? Was für Zukunftsträume hat er? Und vor allem, was für Ideen hat er? Ideen, die seit über zwei Jahren strengstens von der Öffentlichkeit fern gehalten werden. Was sind das für Gedanken aufgrund derer Assange von der Außenwelt isoliert gefangen gehalten wird? Das folgende Interview, aufgezeichnet im Mai 2011, steht nun erstmals auch auf Deutsch zur Verfügung und gibt Einblicke in die Gedankenwelt von Julian Assange.

Fangen wir ganz von vorne an. Wie sind Sie aufgewachsen?

Ich bin in den 70ern in Australien aufgewachsen. Meine Eltern waren im Theatergeschäft tätig, daher mussten wir oft umziehen. Ich lebte an über 50 verschiedenen Orten und besuchte 37 verschiedene Schulen. Viele dieser Orte waren in einer ländlichen Gegend und so lebte ich wie ein Tom Sawyer – mein Leben bestand aus Pferdereiten, Höhlen entdecken, Angeln, Tauchen und Motorrad fahren. Ich war ein sehr neugieriges Kind, das immer nach dem “warum” fragte und Wissensgrenzen überwinden wollte, was dazu führte, dass ich im Alter von 15 Jahren Verschlüsselungssysteme knacken konnte, die beispielsweise die Weitergabe von Software verhindern oder mit denen Informationen auf Regierungscomputern versteckt werden sollte. Australien war damals sehr hinterwäldlerisch und daher war es eine große Freude dort auszubrechen, geistig zumindest, und diese weite Welt zu begreifen. Für einen jungen Menschen, der weit ab vom Schuss lebte, war es ein befreiendes Gefühl, im Alter von 17 Jahren in das Computersystem des Pentagons vordringen zu können. Doch der Freundeskreis, der sich um ein von mir gegründetes Untergrundmagazin versammelt hatte, wurde durch eine groß angelegte Polizeirazzia auseinander getrieben. Ich hatte jedoch das Bedürfnis, die Fülle an Wissen, das ich entdeckt hatte, mit den Menschen zu teilen, und war daher im Anschluss daran am Aufbau der Internetindustrie in Australien beteiligt. Ich verbrachte einige Jahre damit als Internetanbieter das Internet zu den Menschen zu bringen und begann dann nach einer neuen intellektuellen Herausforderung zu suchen. Das brachte mich dazu Verschlüsselungstechnik zum Schutz von Menschenrechten einzusetzen. Schließlich traf ich jedoch in meiner Tätigkeit auf eine Grenze. Eine Begrenzung nicht nur meines Handelns, sondern auch des Handelns aller anderen Menschen auf der Welt: Informationen, die erklären wie die Welt funktioniert, waren nicht in ausreichendem Maß verfügbar. Das, was da fehlte, warf eine große Frage auf und verlangte eine starke Antwort. Uns fehlt nämlich eine grundlegende Informationsart. Es gibt drei Kategorien von Informationen:

Kategorie Nummer Eins ist das Fachwissen. Seine Entstehung und Erhaltung werden durch die Industrie gefördert. Fragen wie: ‘Wie baue ich eine Wasserpumpe, wie erzeuge ich Stahl, wie koche ich’ und so weiter gehören zu dieser Kategorie. Da dieses Wissen in alltäglichen Industrieprozessen benutzt wird bleibt es erhalten.

Die zweite Kategorie von Informationen hat keine Unterstützer mehr hinter sich. Diese Art von Information hat allerdings schon ihren Weg in unsere Geschichtsbücher gefunden. Die Informationen sind vorhanden, können aber auch langsam verschwinden. Dazu gehören z.B. Bücher, die nicht mehr neu aufgesetzt werden. Die Anzahl der verfügbaren Bücher verringert sich langsam. Es ist aber ein langsamer Prozess, da niemand bewusst versucht diese Art von Informationen zu zerstören.

Und zuletzt gibt es die dritte Kategorie von Informationen und auf diese richte ich meine Aufmerksamkeit. Dabei handelt es sich um Informationen, deren Bekanntwerdung aktiv verhindert wird. Informationen dieser Kategorie werden vor oder nach der Veröffentlichung vertuscht. Wenn Informationen dieser Kategorie verbreitet werden gibt es aktive Versuche sie zu entfernen.

Da die Informationen der ersten beiden Kategorien entweder durch die Wirtschaft gestützt werden oder es zumindest keine Versuche gibt sie zu zerstören, fühle ich mich durch sie nicht so sehr angesprochen. Aber der Zugang zu der dritten Kategorie von Informationen wurde uns durch die Weltgeschichte hindurch verweigert. Unser Verständnis der Welt hat eine große Lücke, die durch den Mangel an eben diesen Informationen der dritten Kategorie entstanden ist. Und wir wollen eine gerechte und zivilisierte Welt – und mit “zivilisiert” meine ich nicht industrialisiert, sondern eine Welt, in der Menschen keine dummen Dinge tun, sondern sich intelligenter verhalten. Nur wenn wir herausfinden können, wie komplexe menschliche Institutionen sich verhalten haben wir die Möglichkeit zivilisiertere Verhaltensweisen in diese einzubauen. Darum sage ich, dass alle bestehenden politischen Theorien unvollständig sind, da man ohne vollständiges Wissen über die Welt keine komplette politische Theorie aufbauen kann.

Für viele Menschen heutzutage haben Sie eine Vorbildfunktion. Von welchen Vorbildern wurden Sie inspiriert?

Es gibt heroische Handlungen und gewisse Gedankengänge, die ich schätze. Ich würde aber eher sagen, dass es manche Menschen gibt, mit denen ich gedanklich übereinstimme, so z.B. mit Heisenberg und Bohr. Die Mathematik von Heisenberg und Bohr ist eine Art von Philosophie. Sie entwickelten eine Theorie zur Quantenmechanik, in der aber Methoden enthalten sind, welche klar die Beziehung von Ursache und Wirkung beleuchten. Wenn man sich mit Mathematik beschäftigt, muss man seinen Geist Schritt für Schritt voranbringen. Manchmal braucht man dafür die gesamte geistige Energie. Der ganze Geist muss in einer bestimmten Verfassung sein und auf einmal merkt man, dass die gedankliche Anordnung genau die gleiche ist wie die des Verfassers, als dieser die Theorie niederschrieb. Dann entsteht ein Gefühl von geistiger Ähnlichkeit und Harmonie. Durch Quantenmechanik und deren modernen Weiterentwicklungen kam ich zu einem tiefgreifenden Verständnis davon wie eine Sache die nächste verursacht. Ich wollte diesen Gedankengang umdrehen und auf einen anderen Bereich anwenden: Wir nehmen einen erstrebenswerten Endzustand und überlegen uns welche Veränderungen nötig wären, um von unserem Ausgangsort dorthin zu gelangen. Damit möchte ich erklären wie Informationen in der Welt bestimmte Aktionen verursachen. Falls der erstrebenswerte Endzustand eine gerechtere Welt ist, dann lautet die Frage: Welche Aktionen verursachen eine Welt, die gerechter ist? Und welche Art von Informationen verursachen wiederum diese Aktionen?

Und wer waren Ihre Vorbilder in der Politik?

Politisch inspiriert wurde ich durch Menschen wie Solzhenitsyn, den Anti-Stalinisten im Buch “Der Gott, der keiner war” (Originaltitel: The God that Failed) und von radikalen US-amerikanischen Traditionen bis hin zu den Black Panthers. Die Emotionalität und Willensstärke verschiedener Freiheitsbewegungen fand ich inspirierend, nicht jedoch deren Inhalt. Diese hatten auch einen Einfluss auf die Dinge, mit denen ich mich beschäftigte, wie zum Beispiel die “Cypherpunk-Bewegung”. Das war eine Ansammlung von Leuten aus Kalifornien, Europa und Australien, die sahen, dass sie die Beziehung zwischen Staat und Individuum durch den Einsatz von Verschlüsselungstechniken verändern konnten. Viele von ihnen konnten gut mit höherer Mathematik, Verschlüsselungstechnik und Physik umgehen, interessierten sich für Politik und hatten das Gefühl, dass die Beziehung zwischen Individuum und Staat verändert werden und der Staat von den Individuen auf Machtmissbrauch hin überwacht werden sollte. Der grundlegende Gedanke war also, mittels Mathematik und Computerwissenschaften eine Kontrolle der staatlichen Macht zu erzeugen. Ein bisschen raffinierte Mathematik reicht aus, um selbst den stärksten Staat abblitzen zu lassen. Wenn du und ich uns auf einen bestimmten Verschlüsselungscode einigen und dieser mathematisch gesehen stark und sicher ist, dann reichen die Anstrengungen jedweder Supermacht nicht aus um diesen Code zu knacken. Und in diesem Sinne sind Mathematik und Individuen stärker als Supermächte.

War das der erleuchtende Gedanke, der Sie auf die Idee mit WikiLeaks gebracht hat?

Es gab nicht einen bestimmten Gedanken. WikiLeaks entstand aus mehreren unterschiedlichen Ideen, z.B. aus der Einsicht über das, was man im Leben tun soll, aus dem Verständnis welche Informationen wichtig sind und welche nicht, daraus wie man solche Unternehmungen schützt und vielen kleinen technischen Durchbrüchen. Stellen Sie sich vor, vor uns wäre ein Feld, auf dem alle Informationen der Welt lägen, das gesamte Weltwissen, also sowohl öffentlich zugängliche als auch nicht zugängliche Informationen. Wir stehen in unserem Gedankenexperiment vor diesem Feld und fragen uns: Wenn wir Informationen nutzen möchten, um die Welt zu verbessern, welche Informationen wären das? Wir hätten gerne eine Möglichkeit, die Informationen auf dem Feld vor uns zu kennzeichnen, hätten gerne eine Möglichkeit, mit einem gelben Stift genau die Informationen markieren zu können, die wahrscheinlich den gewünschten Effekt auf die Welt hätten. Aber wie können wir die wichtigen Informationen erkennen in diesem riesigen Feld voller Informationen? Was können wir erkennen, wenn wir uns das Feld aus der Ferne anschauen? Können wir irgendwie die Informationen erkennen, die geeignet wären, einen Wandel in der Welt auszulösen? Wenn wir genau hinschauen, sehen wir, dass manche Informationen in diesem riesigen Feld schwach leuchten. Die Informationen leuchten umso mehr, je größer die Anstrengungen sind, die unternommen werden, um diese Informationen zurückzuhalten. Wenn z.B. eine Organisation eine Information in einen Tresor steckt und mit Wachen umgibt, übt diese Organisation eine Anstrengung aus, um diese Information vor der Welt zurückzuhalten. Und warum wird eine so große Anstrengung unternommen, um die Information zurückzuhalten? Wahrscheinlich – nicht definitiv, aber wahrscheinlich – weil die Organisation vermutet, dass diese Information die Macht der Organisation reduzieren würde. Die Information würde eine aus der Sicht der Organisation unerwünschte Veränderung in der Welt verursachen. Daher übt die Organisation, die diese Information besitzt, konstant Anstrengungen aus, um diesen Wandel zu verhindern. Dank diesem Leuchtsignal kann man also all die Informationen finden, die veröffentlicht werden sollten. Mir ist ein Licht aufgegangen, als ich gelernt habe, das Leuchtsignal der Zensur als eine Möglichkeit zu sehen und als ich bemerkt habe, dass wann immer Organisationen oder Regierungen versuchen, eine Information zurückzuhalten, sie dir damit die wichtigste Information überhaupt geben: Dass da etwas ist, wo es sich lohnt genauer hinzusehen und dass Zensur eine Form der Schwäche und keine Stärke ist. Zensur ist nicht nur ein hilfreiches Signal, sondern auch immer eine Möglichkeit, denn sie offenbart eine Angst vor einer Reform. Und wenn eine Organisation vor einer Reform Angst hat, zeigt sie damit die Tatsache an, dass die reformiert werden kann.

Was sind die nicht verwirklichten Projekte von WikiLeaks?

Da gibt es viele. Ich bin mir nicht sicher, ob es richtig ist zu sagen, dass die nicht verwirklicht sind, denn eine Menge von ihnen werden hoffentlich realisiert. WikiLeaks ist zu jung, um zurückzublicken und sagen zu können ‘Oh, das haben wir nie hinbekommen’. Aber es gibt eine Sache, die wir versucht und nicht hinbekommen haben. Von Anfang an war ich der Ansicht, dass alle öffentlichen Medien zusammengenommen nicht ausreichen, um die von WikiLeaks veröffentlichten Informationen zu bearbeiten. Unser Plan war, die Arbeitskraft von all denen, die in ihrer Freizeit über mehr oder weniger wichtige Dinge schreiben, auf das von uns veröffentlichte Material umzulenken – Material, das das Potenzial besitzt, die Welt zu verändern, wenn die Menschen Zugriff darauf haben, es analysieren, in einen Zusammenhang setzen und in ihren Kreisen verbreiten. Ich setzte mich sehr dafür ein, das zu verwirklichen – ohne Erfolg. Es gibt so viele Menschen, die Artikel auf Wikipedia schreiben oder Blogs über tagespolitische Themen verfassen und hierfür große Mühen auf sich nehmen. Wenn diese Menschen gefragt werden, warum sie nicht Texte zu eigenen Themen verfassen, hört man häufig die Antwort, dass sie keinen Zugang zu originellen Informationsquellen haben und daher keine eigenen, originellen Texte schreiben können. Ich hätte daher gedacht, dass diese Leute die Möglichkeit, über einen gerade ans Licht gebrachten Geheimdienstbericht zu schreiben, unwiderstehlich finden würden, anstatt auf Wikipedia einen Artikel zu schreiben, der politisch nichts bewirkt.
Die Wirklichkeit sah aber ganz anders aus. Ich hatte z.B. einen Geheimdienstreport der US-Armee über den Kampf von Fallujah 2004 veröffentlicht. Ein sehr gutes, verständliches Dokument mit Kartenmaterial und ausführlichen Beschreibungen. Wir schickten dieses hochbrisante Dokument an 3000 Menschen. Zunächst geschah gar nichts. Kein Blogger, weder linke noch arabische Intellektuelle nahmen sich der Sache an. Warum kümmerte sich niemand um dieses außergewöhnliche Dokument? Hierfür habe ich zwei Erklärungen: Die erste, wohlwollende Erklärung ist die, dass diese Personen nicht wissen, wie man eine intellektuelle Debatte führt. Sie sind durch die Mainstream-Medien gezähmt worden. Sie reagieren nur noch auf das, was die New York Times auf ihrer Titelseite schreibt. Sie suchen das, was berichtenswert ist und teilen das der Öffentlichkeit mit. Das ist die wohlwollende Interpretation. Ich denke, der Hauptgrund ist jedoch, dass viele nur schreiben, um ihre Konformität mit den Werten ihres Herausgebers anzupreisen. Das Ziel von vielen hobbymäßigen Schreibern ist mit einem möglichst einfachen Thema ihre Konformität mit einer möglichst großen Zahl von Menschen, deren Gunst sie erlangen möchten, zu signalisieren. Nehmen wir nun zum Beispiel einen europäischen Linken. Würde er sich seiner Gruppe gegenüber nicht in einem positiven Licht darstellen, wenn er über die Geheimdienstdokumente schreibt? Ja, in der Tat, aber das Kosten-Nutzen-Verhältnis stimmt nicht. Die Kosten sind das Lesen und Verstehen eines 30-seitigen Dokuments und dann das Verfassen des Textes. Das erfordert einen höheren Einsatz, als wenn man nur einen Artikel in der New York Times kommentiert.

Haben Sie Zukunftsträume?

Ja, hier ist einer davon: Der Ausspruch von Georg Orwell, dass der, der die Gegenwart kontrolliert, auch die Vergangenheit kontrolliert und der, der die Vergangenheit kontrolliert, die Zukunft kontrolliert [He who controls the present controls the past, and he who controls the past controls the future] gilt heute mehr denn je. Denn digitale Archive, die Aufbewahrungsorte unserer geistigen Aufzeichnungen, ermöglichen demjenigen, der die Gegenwart kontrolliert, eine absolut spurenlose Löschung der Vergangenheit. Die Vergangenheit kann heute mehr als jemals zuvor komplett und unwiderruflich auf nicht nachweisbare Art zum Verschwinden gebracht werden.
Orwells Ausspruch war eine Reaktion auf das was, 1953 mit der Großen Sowjetischen Enzyklopädie geschehen war. In diesem Jahr starb Stalin und Beria geriet in Missgunst. In der Enzyklopädie gab es eine Seite über Beria und man beschloss, dass diese verschwinden müsse. Man ließ daher eine neue Seite drucken und schickte diese all den Besitzern der Enzyklopädie zu, zusammen mit der Anweisung, dass die alte mit der neuen Seite überklebt werden solle. Im Nachhinein sah man der Seite jedoch an, dass sie überklebt worden war und so kommt es, dass wir heute davon wissen. Darauf spielte Orwell mit seinem Ausspruch an.

Im Jahr 2008 begann einer der reichsten Männer Großbritanniens, Nadhmi Auchi – ein Iraker, der unter Saddam Husain im Ölministerium reich geworden war – eine Reihe von Angriffen gegen Zeitungen und Blogs. 2003 war er in Frankreich wegen Korruption verurteilt worden. Er beauftragte eine britische Firma alle Artikel, die seine Verurteilung aufgrund von Korruption erwähnen, aufzuspüren und auszulöschen. Und die Artikel verschwanden, überall. Auch der Guardian entferne drei Artikel. Wenn man die Seiten heute aufruft, erscheint die Fehlermeldung, dass diese Webseite nicht gefunden wurde. Es steht dort nicht, dass sie aufgrund einer Drohung entfernt wurde. Wir können nicht nur sagen, dass die Geschichte um Nadhmi Auchi aufgehört hat zu existieren, sondern es scheint, als habe sie niemals existiert. Teile unserer geistigen Aufzeichnungen verschwinden und wir können nicht mal mehr sagen, ob sie jemals existiert haben.

Das Interview wurde geführt von Hans Ulrich Obrist, einem schweizerischen Kurator und Kunstkritiker. 1993 gründete er das Robert Walser Museum. Zum Zeitpunkt des Gesprächs war er Co-Direktor der Serpentine Gallery in London.

Gekürzt und frei übersetzt aus dem Englischen. Vollständiger englischer Originaltext:

https://www.e-flux.com/journal/25/67875/in-conversation-with-julian-assange-part-i/

https://www.e-flux.com/journal/26/67921/in-conversation-with-julian-assange-part-ii/