Ein Schauprozess unter den Bedingungen der „regelbasierten Ordnung“

von Arnd Kempe

Es kann sein, dass Sie den Namen Julian Assange noch nie gehört haben. Das Jahr 2010, als quasi jeder Mediennutzer diesen sehr wohl kannte, ist für junge Menschen graue Vergangenheit. Leitmedien haben in den letzten Jahren nur sporadisch, das Fernsehen fast nichts über das Schicksal des Gründers der Medienagentur WikiLeaks berichtet. Das Asyl des australischen Journalisten in der Botschaft Ecuadors in London 2012-2019 liegt fünf Jahre zurück. Warum war er dorthin geflohen? Am 11. April 2019 wurde Assange durch britische Polizisten aus der Botschaft verschleppt. Warum geschah das?

Seitdem gibt es in größeren Abständen Berichte über ein Auslieferungsverfahren in London. Warum wollen die USA seine Auslieferung erreichen? Und warum sollte mich das Schicksal eines Journalisten interessieren, der seit fast fünf Jahren wie ein Terrorist behandelt im britischen Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh gefangen gehalten wird?

Wie wichtig ist der Ausgang der für die Öffentlichkeit als Gerichtsverfahren daher kommenden politischen Verfolgung für Presse- und Meinungsfreiheit?

Showdown

Am 20. und 21. Februar 2024 fand die letzte Anhörung im Auslieferungsverfahren gegen den Gründer der Plattform WikiLeaks vor zwei Richtern am Royal Court of Justice in London statt. Das ist zugleich der Kulminations- und Endpunkt einer seit 2012 auf britischem Boden ausgetragenen – äußerlich juristischen – Schlacht. Wird dieser Einspruch abgelehnt, könnte Julian Assange innerhalb von wenigen Stunden an die USA ausgeliefert werden.

Dort wollen die USA den australischen Journalisten vor einem Geschworenengericht in Virginia des Verrats von Geheimnissen in 17 Fällen und in einem Fall des Eindringens in Computersysteme anklagen und zu einer Haftstrafe von insgesamt 175 Jahren – die Strafmaße der einzelnen Anklagepunkte werden einfach summiert – in einem US Hochsicherheitsgefängnis verurteilen.1

Zur Erinnerung: Die 2010 gleichzeitig von WikiLeaks im Internet und Medien wie New York Times, Guardian und Spiegel veröffentlichten Dokumente betrafen Originalberichte des US-Militärs vom Kriegsgeschehen in Afghanistan (Afghan Warlogs) und im Irak (Iraq Warlogs), interne Vorschriften zu den Abläufen im Militärgefängnis Guantanamo (Gitmo Files) sowie die interne Kommunikation zwischen US-Botschaften und -Konsulaten mit dem US-Außenministerium (Cable Leaks); also Protokolle über Kriegsverbrechen und Einblicke in den Lauf der Regierungsmaschinerie. Der Kaiser war plötzlich nackt.

Die Dokumente waren WikiLeaks über verschlüsselte Kanäle zugespielt worden. Echtheit – und Brisanz – der Dokumente stehen bis heute außer Zweifel. Die USA haben nicht ohne Grund ihre politische und ökonomische Macht eingesetzt, um Ecuador, wo Assange von 2012 bis 2019 Asyl erhalten hatte – aber von der britischen Polizei an der Ausreise gehindert und damit in der ecuadorianischen Botschaft willkürlich gefangen gehalten wurde –, von dessen (illegalem) Entzug zu „überzeugen“.

Ein gewöhnliches Gerichtsverfahren?

Politiker, zur Stellungnahme im Fall Julian Assange aufgefordert, verweisen gern auf das laufende ‚juristische’ Verfahren in London – als würde es sich um einen unanfechtbaren, unabhängigen, also quasi objektiven Prozess handeln; also einen Vorgang, der nach transparenten Regeln zu einem nachvollziehbaren gerechten Resultat führt.

Außenministerin Annalena Baerbock, die sich noch vor der Bundestagswahl am 14.09.2021 auf der Plattform Abgeordnetenwatch.de für die sofortige Freilassung des australischen Journalisten ausgesprochen hatte, ließ am 09.02.2022 auf Parlamentsanfrage mitteilen: „Die Bundesregierung hat keinen Anlass, an der Rechtstaatlichkeit des Verfahrens und des Vorgehens der britischen Justiz zu zweifeln.“ 2

Der australische Premierminister Anthony Albanese, der mehrfach zur Behandlung seines Mitbürgers „Enough is enough“ öffentlich verkündet hat, überlässt konkrete Maßnahmen seinem Justizministerium – von dem keine Bemühungen zur Freilassung des Australiers bekannt sind. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EMGR) lehnte es ab, sich vor Abschluss des Verfahrens vor britischen Gerichten mit dem Fall Assange zu beschäftigen.

Das Verfahren ist allerdings alles andere als ein normaler Prozess. Ein Journalist Australiens wird nach Intrigen von vier Staaten (außer den USA sind dies Schweden, Ecuador und Großbritannien), seit 2019 in Auslieferungshaft festgehalten. Damit dieser Artikel kein Kriminalroman wird, sei für Interessierte auf zwei Bücher3 verwiesen: Secret Power, WikiLeaks and its Enemies von Stefania Maurizi und Der Fall Julian Assange von Prof. Nils Melzer.

An dieser Stelle folgt ein Vergleich der Verhaltensweisen der Hauptakteure Großbritannien und USA bei früheren Auseinandersetzungen mit ihrem Vorgehen im Fall Assange. Die Kapitel zu Großbritannien werden um die kafkaeske Timeline des Verfahrens ergänzt.

Zusätzliche Informationen zu Rechtsorganen der USA und von Repräsentanten dieses Staates geplanten außergerichtlichen Maßnahmen verstärken das Vertrauen in ein faires Verfahren nach international anerkannten Rechtsnormen und menschliche Haftbedingungen auf Seiten des Klägers nicht.

Großbritannien I: Zwei Auslieferungsverfahren in London

Vor wenigen Monaten, am 11. September, gab es nicht nur Anlass, sich an 9/11, sondern auch an den 50. Jahrestag des von General Augusto Pinochet 1973 inszenierten Putsches gegen den sozialistischen Präsidenten Chiles, Salvador Allende, zu erinnern.

Auf Befehl Pinochet wurden tausende Anhänger der gestürzten Regierung verfolgt, gefoltert und mindestens 3000 ermordet. Er ließ Gefangene aus Hubschraubern über dem Meer abwerfen. Seither kennt das Völkerrecht eine neue Kategorie – „forced disappearance“. Für diese Verbrechen saß der General nicht einen Tag in einem chilenischen Gefängnis.

Ein spanischer Rechtsanwalt hätte ihm 1998 fast zum Verhängnis werden können. Baltasar Garzón stellte am 15.10.1998 einen Auslieferungsantrag wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Folter und eben „gewaltsamen Verschwindenlassens“ an die britische Justiz, als sich Augusto Pinochet in London aufhielt. Trotz Protestes der chilenischen Regierung wird er einen Tag später in einem Krankenhaus, wo er sich zur Behandlung aufhielt, festgenommen. Anthony Blair, damals britischer Premier, erklärte, dass es sich um „einen rein juristischen Vorgang“ handele. Allerdings wartete der chilenische General auf seinen Prozess nicht in Belmarsh, sondern wegen seines vorgeblich schlechten Gesundheitszustands unter Hausarrest auf Wentworth in Surrey. Hier wurde er auch von Margret Thatcher besucht, deren Krieg um die Falklandinseln gegen Argentinien er 1982 unterstützt hatte. Vor britischen Gerichten kam es während des 503tägigen Zwangsaufenthaltes von Pinochet zu einem theatralischen Tauziehen mittels verschiedener Gutachten zum Gesundheitszustand des Generals.

Am 2. März 2000 wurde Augusto Pinochet vom damaligen Innenmister Jack Straw aus „humanitären Gründen“ begnadigt und am gleichen Tag von einer bereitstehenden chilenischen Militärmaschine ausgeflogen. An Board gelangte er im Rollstuhl. Den triumphalen Empfang in Santiago de Chile genoss der General stehend.

Wie anders handelt die britische Justiz im Fall der Auslieferungsforderung der USA, die Julian Assange nicht wegen Massenmordes, sondern wegen Erhalts und Veröffentlichens von Informationen nach dem Espionage Act4, einem Gesetz aus dem Jahr 1917, anklagen wollen. Seine Begnadigung aus gesundheitlichen Gründen wurde von der britischen Innenministerin Priti Patel abgelehnt, der Auslieferungsbeschluss am 17.06.2022 unterzeichnet. Zu diesem Zeitpunkt saß Julian Assange bereits über drei Jahre in Einzelhaft in Belmarsh. Und das trotz von zwei den UN-Sonderberichterstatter Prof. Nils Melzer bei seinem Besuch am 09.05.2019 begleitenden medizinischen Experten auf Grund weißer Folter festgestellter schwerer gesundheitlicher Beeinträchtigungen5. Sowohl in den USA als auch in Großbritannien wird der Verrat von Staatsgeheimnissen von denselben Behörden und Gerichten verfolgt, die auch für Terrorismus zuständig sind. Das hat Folgen für Haftbedingungen und Strafmaß.

Großbritannien II: Recht oder Willkür?

Die Folgerungen aus dem Vergleich der beiden Verfahren sprechen für sich. Es gibt weitere Argumente, die eine Auslieferung ausschließen sollten. Das diesbezügliche Abkommen zwischen UK und USA von 20036 verbietet die Auslieferung von Personen, die im Zielland den Status politischer Gefangener haben würden. Dies wäre für den australischen Journalisten in den Vereinigten Staaten der Fall. Die USA ihrerseits müssten nämlich mit einer Verurteilung gegen ihre eigene Verfassung, genauer, deren ersten Zusatz7, verstoßen – dies wäre nur mit politischer Notwendigkeit begründbar.

Der britische Extradition Act von 2003 enthält in Sektion 81 die ultimative Forderung, dass jedes Gericht der Welt nicht nur Folter als Verbrechen zu betrachten hat, sondern verantwortlich dafür ist, Berichte über Folter anzuhören und alles in seiner Macht Stehende zu tun, um zu verhindern, dass sie sich wiederholt. Folter allerdings hatte der schweizer Sonderberichterstatter Prof. Melzer bereits dokumentiert. Die Zusicherung humaner Haftbedingungen in einem U.S. Supermax-Gefängnis, gegeben durch US-Vertreter im Schauprozess zur von den USA geforderten Auslieferung, ist das Papier nicht wert, auf das sie geschrieben wurde.8

Das Erstaunliche der 12-jährigen Odyssee durch Botschaftsasyl und Einzelhaft besteht darin, das Julian Assange überhaupt noch lebt. Denn sein Gesundheitszustand hat sich seit der Diagnose von 2019 bei unveränderten Bedingungen natürlich nicht verbessert. Ein leichter Schlaganfall wurde diagnostiziert. Alice Jill Edwards, amtierende UN-Sonderberichterstatterin für Folter, forderte die Regierung des Vereinigten Königreichs am 6. Februar diesen Jahres auf, den Gefangenen nicht an die USA auszuliefern. Denn „er leidet an einer lang anhaltenden und wiederkehrenden depressiven Störung und ist selbstmordgefährdet.“9

Weiter: In einem anderen Fall verwarf ein britisches Gerichts den Plan der britischen Regierung, Abschiebungen nach Ruanda auszuführen. Das Argument: Britische Gerichte haben nach der Überstellung von Personen keine Handlungsmöglichkeit, falls deren Behandlung im Zielland nicht den gegebenen Zusagen der dortigen Regierung entspräche. Gleiches gilt für Julian Assange. Kein britisches Gericht könnte den Zusagen der USA im Auslieferungsverfahren widersprechend angeordnete Verschärfungen der Haftbedingungen in einem Supermax-Gefängnis verhindern. Auf diesen Widerspruch nimmt der Brief australischer Abgeordneter an den britischen Innenminister James Cleverly vom 11. Januar 2024 Bezug10.


Überblick über den fünfjährigen kafkaesken Verlauf des Schauprozesses vor britischen Gerichten. Die willkürlichen langen Wartezeiten zur jeweils nächsten Reaktion der Gerichte (Rot) weisen auf die Hoffnung, dass der Fall Julian Assange in Vergessenheit geraten und die öffentliche Aufmerksamkeit nachlassen möge. Eine biologische Lösung wäre achselzuckend zur Kenntnis genommen worden. Kontrastierend die der Verteidigung vorgegeben Fristen (Grün).

USA I: Zwei Journalisten veröffentlichen US-Staatsgeheimnisse

Vor mehr als 50 Jahren, im Jahr 1971, publizierte Daniel Ellsberg, Top-Level Pentagon Consultant, tausende klassifizierte Dokumente bei achtzehn Zeitungen, die „Pentagon Papers“. Diese enthielten Beweise zu Kriegsverbrechen und Verlusten der USA im Vietnamkrieg und belegen Lügen seitens des Staates, mit der Absicht, diese zu verbergen. Die Zeitungen, unter ihnen die New York Times, von den Behörden mit einer Unterlassungsanordnung konfrontiert, setzten 1971 ihr Recht, die Dokumente zu drucken, mit Verweis auf den Ersten Verfassungszusatz (First Amendment7) gerichtlich durch.

Nixon und Kissinger („Ellsberg ist der gefährlichste Mann in den USA“) beschlossen, den Journalisten zu diskreditieren. Eine Gruppe ehemaliger CIA Mitarbeiter brach bei seinem Psychiater ein, um nachteilige Informationen über ihn zu finden. Als die gleiche Gruppe beim Einbruch in Büroräume des Democratic National Committee aufflog, wurde auch der Einbruch bei Ellsbergs Arzt in Kalifornien publik.

Das Gerichtsverfahren nach Abschnitt 793 des Espionage Act11 gegen den Whistleblower, dem 115 Jahre Gefängnis drohten, brach zusammen. Außer dem Versuch der illegalen Beschaffung von Beweismitteln durch die Regierung waren auch illegale Abhörmaßnahmen Grund für die Einstellung.

Die 18 Anklagen gegen Julian Assange, auf die sich die Auslieferungsforderung der USA in London beziehen, sind in einem Second Superseding Indictment1 aufgelistet. Sie beinhalten einen Punkt wegen angeblichen Computer Hackings sowie 17 Punkte wegen des Erhalts und Veröffentlichens von Informationen (bezüglich Guantanamo-Dokumenten, Botschaftsdepeschen, nicht näher benannten Akten der sog. ‚Nationalen Verteidigung‘, Dokumenten aus den Kriegen gegen Afghanistan und den Irak).

Dagegen gibt es Einspruch im US-Repräsentantenhaus selbst. Am 13. Dezember vergangenen Jahres wurde von sechs republikanischen und zwei demokratischen Abgeordneten im Repräsentantenhaus die Resolution H.Res. 934 eingebracht, in der mit den folgenden Argumenten die sofortige Einstellung des gesamten Verfahrens gefordert wird12:

  • Reguläre journalistische Tätigkeit ist durch den ersten Zusatzartikel der Verfassung der Vereinigten Staaten geschützt.
  • Mit dem Espionage Act wurde noch nie ein Publizist verfolgt.
  • Das zu erwartende Urteil des Geschworenengerichts von 175 Jahren Haft ist praktisch ein Todesurteil
  • Nach einem solchen Urteil könnten Journalisten weltweit für die Beschaffung und Veröffentlichung von Informationen verfolgt und gefangen genommen werden.
  • Die Pressefreiheit ist für die öffentliche Transparenz unerlässlich und ein entscheidender Schutz für die Republik.

Wie im Fall Ellsberg wurden auch im Fall von Assange der US-Regierung sowohl das illegale Beschaffen von Unterlagen als auch ungesetzliche Abhörmaßnahmen im Auftrag der US-Regierung nachgewiesen. Während der Zeit des Aufenthalts des Australiers in der ecuadorianischen Botschaft wurden er und seine Besucher, darunter seine Anwälte und Ärzte, durch die mit der CIA zusammenarbeitende spanische Sicherheitsfirma UC Global überwacht und abgehört. Unterlagen und Daten mitgeführter elektronischer Geräte wurden kopiert. UC Global war von der Regierung Ecuadors mit der Gewährleitung der Sicherheit der Botschaft beauftragt, stellte aber die auf ihrem Server abgelegten Informationen auch der CIA zur Verfügung.13

Bei einem Prozess gegen UC Global in Madrid bestätigte ein Mitarbeiter dieser Firma die Überwachung von Julian Assange in der ecuadorianischen Botschaft in London.14

In den USA hat ein Richter eine Anklage gegen die CIA wegen Verletzung der verfassungsmäßigen Rechte von U.S.-Bürgern durch illegale Überwachung während ihrer Besuche in der Botschaft Ecuadors zugelassen.15 In Analogie zum Prozess gegen Daniel Ellsberg müsste die Anklage gegen Assange wegen unrechtmäßiger Ermittlungsmethoden abgelehnt und für ungültig erklärt werden.

Ellsberg schrieb über Assange: „Ich war der erste Whistleblower, der mit dem Espionage Act verfolgt wurde und nun ist er der Erste, der [nach dem Espionage Act] wegen Publizierens verfolgt wird.“16

Al Jazeera veröffentlichte eine prägnante Gegenüberstellung der beiden Verfahren.17

USA II: Der Umgang mit Gegnern. Rechtsverständnis, Gerichte & Strafen.

Die USA sind stärkste Militär- und Wirtschaftsmacht der Welt. Wer wesentlichen Interessen offen zuwider handelt, kann mit reflexartigen Drohungen konfrontiert oder Zielscheibe von Geheimdiensten werden.
Das geschah WikiLeaks schon kurz nach den Veröffentlichungen der Afghan & Iraq Warlogs. Der Republikaner Newt Gingrich nannte Julian Assange „Terrorist“18. Was das bedeutet, ist nach 9/11 klar. Auch Joe Biden bezeichnete ihn als „High-Tech Terroristen“19.

Noch deutlicher wird die Herangehensweise, Probleme ohne Umwege mit Gewalt aus der Welt zu schaffen, 2017 nach der Veröffentlichung der CIA-Hacking Tools „Vault7“20.

Eine Reaktion der CIA und ihres damaligen Direktors Mike Pompeo bestand in dem Plan, Julian Assange aus der Botschaft Ecuadors, in der er sich zu der Zeit aufhielt, zu entführen und entweder über ein Drittland in die USA zu bringen oder sofort zu erschießen.21

Dass britische Richter in Erwägung ziehen, einen Gefangenen in ein Land zu überstellen, dessen Geheimdienst ihn ermorden wollte, sollte ausgeschlossen sein.

Würde Assange ausgeliefert werden, fände sein Prozess vor der Grand Jury in Alexandria, im Bundesstaat Virginia, statt. Was unterscheidet ein Gerichtsverfahren vor einer Grand Jury von einem Verfahren vor einem europäischen Gericht?

Geschworenengerichte gibt es in den USA seit ihrer Gründung 1776. Allerdings arbeiten Gerichte dieser Art gegenwärtig nur noch in zwei Staaten der Welt – in den USA und Liberia.22

Verfahren werden nach intransparenten Regeln mit für den Angeklagten eingeschränkten Verteidigungsmöglichkeiten und unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchgeführt.

Die Anwälte von Assange haben vor dem Geschworenengericht nicht das Recht vorzubringen, dass er die Dateien im öffentlichen Interesse publizierte. Die Jury könnte auch nicht erfahren, ob und wie die Informationen der Öffentlichkeit von Nutzen waren. Angeklagte dürfen nicht erklären, welche Motive sie für ihr Handeln hatten. Eine Verteidigung im klassischen Sinne ist nicht möglich. In den letzten Jahren ist jeder, der vor diesem Gericht nach dem Espionage Act angeklagt wurde, zu langjähriger Haft in Maximum Security Gefängnissen verurteilt worden.

Für die Gefangenen der USA in Guantanamo gab es eine weitere Besonderheit – exterritoriale Militärgerichte. Bei den Verfahren sind die Rechte der Angeklagten stark eingeschränkt. Bei Prozessen bis 2005 wurden sogar Geständnisse, die unter Folter zustande gekommen waren, berücksichtigt.23

Zum Abschluss ein Blick auf mögliche Strafmaße bei Prozessen in den USA. Diese gehören neben Saudi-Arabien, Nordkorea, China zu den Staaten, in denen die Todesstrafe noch angewendet wird. Absurde Strafmaße wie angedrohte 175 Jahre für Assange oder 115 Jahre gegen Ellsberg sind in Wahrheit Todesstrafen. In Deutschland kommen selbst lebenslänglich Verurteilte meist nach 15 Jahren frei, nur schwerste Fälle anschließend in Sicherungsverwahrung.

Holger Stark am 5. Januar diesen Jahres in DIE ZEIT: „Wer die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten infrage stellt, und sei es nur durch eine Veröffentlichung, der muss mit den härtesten denkbaren Konsequenzen rechnen. Wann jemand gefährlich wird, entscheidet die U.S.-Regierung. In diesem Sinne ist Julian Assange ein politischer Gefangener.“24

Blick in die Milchglaskugel: Tag X und danach?

Die lange Verfahrensdauer weist auch auf eine gewisse Ratlosigkeit der britischen und US-Behörden hin, wie der Fall ohne Imageverlust zu Ende gebracht werden kann. Dafür ist die nicht nachlassende öffentliche Aufmerksamkeit durch Erklärungen von Journalisten und Politikern, (leider) seltene Beiträge der Leitmedien, Buchveröffentlichungen, Filmdokumentationen, Aktionen von Abgeordneten in Australien, den USA, Großbritannien und Deutschland sowie die seit Jahren regelmäßig stattfindenden Mahnwachen in vielen Städten, auch in Deutschland25, verantwortlich. In zahlreichen Online-Zeitungen und Blogs sowie in den sozialen Medien wird das Schicksal des australischen Journalisten aufmerksam begleitet.

Auch am Tag X, dem 20. Februar 2024, fand eine Vielzahl von Veranstaltungen statt.

Was kommt danach?

1. Eine Auslieferung an die USA: Das Gericht kann den Antrag von Assange ablehnen, gegen das Urteil des High Court vom 06.06.2023 Berufung einlegen zu dürfen. In diesem Fall könnte er innerhalb von 24 Stunden in ein Flugzeug nach Virginia gesetzt werden. Über den Charakter des Verfahrens vor dem Geschworenengericht und das zu erwartende Urteil gibt es wenig Zweifel. Letzte Einspruchsmöglichkeit auf britischem Boden ist die Anrufung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Die indifferente Haltung des United Kingdom gegenüber der Zuständigkeit des EMGR nach dem Brexit und eine mögliche sofortige Abschiebung vor einer Reaktionsmöglichkeit in Straßburg geben nur wenig Anlass zur Hoffnung auf diese Rettungschance.

Der unabhängige Psychiater Prof. Michael Kopelman, der Herrn Assange während des Schauprozesses 2020 untersucht hatte, hat festgestellt, dass der Australier eine Auslieferung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht überleben werde. Aufgrund seines überdurchschnittlich hohen IQs werde er definitiv einen Weg finden, sich vorher das Leben zu nehmen.

Eine Auslieferung wäre daher in mehrfacher Hinsicht gleichbedeutend mit einem Todesurteil.

2. Keine (sofortige) Auslieferung und keine Freiheit: Der Gerichtshof kann dem Antrag auf Berufung gegen einzelne oder alle Punkte des ursprünglichen Urteils stattgeben. Das Auslieferungsverfahren würde ausgesetzt. Julian Assange bliebe voraussichtlich für die Dauer der neuen Berufung, die wiederum Jahre dauern könnte, in Isolationshaft. Dass dies schlichtweg unmenschlich wäre, spielt bei den Erwägungen britischer Richter keine Rolle.

3. Ein Deal: Darauf könnten die Bemühungen einer Gruppe australischer Abgeordneter hinauslaufen. Assange würde nach Australien gebracht und dort möglicherweise wegen eines Punktes der Anklagen – gesichtswahrend für die USA – verurteilt. Sollte sich die Regierung an ihre Zusagen halten, könnte diese Strafe wegen der langen Auslieferungshaft als abgegolten gelten. Allerdings ist bekannt, dass sich z.B. die US-Seite oft nicht an die Einhaltung solcher Deals gebunden fühlt. So wurde beispielsweise dem Whistleblower der Vault 7-Leaks, dem ehemaligen CIA-Mitarbeiter Joshua Schulte, eine Einzelhaft von „nur“ 10 Jahren in Aussicht gestellt, wenn er sich im Gegenzug auf einen Deal einließe und sich schuldig bekenne. Als er dies tat, wurde er zu 40 Jahren Haft verurteilt. Diese muss er nun unter grausamsten Bedingungen, sog. „speziellen Verwaltungsmaßnahmen“, in einer kleinen, verschimmelten, mit Ungeziefer befallenen Betonzelle ohne funktionierende Sanitäranlagen, ohne Fenster, ohne ausreichenden Zugang zu seinen Anwälten absitzen.

4. Eine Möglichkeit ist die Begnadigung durch Joe Biden. Eingedenk der Reaktion der CIA auf Vault 7 würde er den Geheimdienst mit der Rücknahme der Auslieferungsforderung wenig erfreuen und die Stringenz US-amerikanischen Handelns bei dieser essentiellen Auseinandersetzung in Frage stellen. Die Demokraten sind auf Assange schlecht zu sprechen, weil sie die Veröffentlichung interner Daten Hillary Clintons vom Wahlkampf 2016 für den Wahlsieg Donald Trumps (statt Hillary Clinton selbst wegen ihrer korrupten Machenschaften) verantwortlich machen.

Falls allerdings Joe Biden eine erneute Präsidentschaft anstrebt, wäre eine Begnadigung von Julian Assange möglich. Der Kandidat könnte damit den Unterschied seiner Position zur Pressefreiheit gegenüber Donald Trump verdeutlichen.

5. Der britische Innenminister James Cleverly könnte, den Auslieferungsbescheid seiner Vorgängerin Priti Patel vom 17.6.2022 widerrufen. Auf den Brief australischer Parlamentsabgeordneter10 mit dem Hinweis auf ein im Vergleich relevantes Urteil zur fehlenden Möglichkeit, die Einhaltung von Versprechen auf dem Territorium eines anderen Staates zu garantieren, wurde bereits verwiesen.

Ein hartes Urteil

Baltasar Garzón ist spanischer Rechtsanwalt. Er war es, der 1998 den Haftbefehl gegen Augusto Pinochet ausstellte. Garzón war 2009 an den Anklagen gegen US-amerikanische Verantwortliche für das Gefangenenlager Guantanamo beteiligt; dort wurden auch fünf Bürger spanischer Nationalität festgehalten. Er arbeitete ab 2010 für Assange und erreichte, dass 2016 das Botschaftsasyl von UN-Experten als unrechtmäßige Haft eingestuft wurde. Er war am 27.07.20 Zeuge gegen UC Global wegen illegaler Überwachungsmaßnahmen während des Aufenthalts von Assange in der Botschaft Ecuadors in London.

Sein Urteil über eine von zwei Schattenboxern vorgetragenen gerichtlichen Auseinandersetzung:26

Fußnoten

1 https://www.justice.gov/opa/press-release/file/1289641/download

2 https://www.telepolis.de/features/Aussenministerin-Baerbock-Abkehr-von-Julian-Assange-6455112.html?seite=all

3 Stefania Maurizi, Secret Power, WikiLeaks and its Enemies, Pluto Press, London, 2022
Nils Melzer, Der Fall Julian Assange, Piper, München, 2021

4 Der Espionage Act ist ein Gesetz von 1917, dass zwei Monate nach dem Kriegseintritt der USA gegen das Deutsche Reich verabschiedet wurde. Er wurde für die Öffentlichkeit als Mittel der Bekämpfung von Spionage in Kriegszeiten dargestellt. Tatsächlich wurde er fast ausschließlich gegen Oppositionelle und Journalisten angewandt, die sich gegen Kriegspropaganda stellten.

5 https://www.ohchr.org/en/press-releases/2019/05/un-expert-says-collective-persecution-julian-assange-must-end-now?LangID=E&NewsID=24665

6 https://www.aclu.org/press-releases/aclu-opposes-british-american-extradition-treaty-says-measure-removes-crucial-due
7
https://constitution.congress.gov/constitution/amendment-1/
Der Kongress darf kein Gesetz erlassen, das die Einführung einer Religion betrifft oder die freie Religionsausübung verbietet oder die Rede- oder Pressefreiheit oder das Recht des Volkes, sich friedlich zu versammeln und die Regierung um Abhilfe von Missständen zu ersuchen, verkürzt.

8 https://www.aclu.org/news/national-security/supermax-prisons-cruel-inhuman-and-degrading

9 https://www.ohchr.org/en/press-releases/2024/02/un-special-rapporteur-torture-urges-uk-government-halt-imminent-extradition

10 https://twitter.com/cathyvoganspk/status/1746763919283421594 (nur für X-Benutzer)
https://mcusercontent.com/798e8715c9e2a439ab3581354/files/45f301bc-16d9-93a5-2f47-4af0cb093434/20240111_Assange_extradition_letter.pdf

11 Abschnitt 793 des Espionage Act https://www.law.cornell.edu/uscode/text/18/793

12 https://www.govtrack.us/congress/bills/118/hres934/text

13 https://english.elpais.com/spain/2023-03-29/spanish-company-provided-cia-with-information-leading-to-julian-assanges-arrest.html#

14 https://www.computerweekly.com/news/252486923/Former-UC-Global-staff-confirm-Embassy-surveillance-operation-against-Julian-Assange

15 https://english.elpais.com/international/2023-12-22/a-spanish-company-and-the-cia-found-guilty-of-violating-rights-of-julian-assanges-visitors.html

16 https://www.wsws.org/en/articles/2023/06/19/unmo-j19.html

17 https://www.aljazeera.com/gallery/2023/6/12/the-pentagon-papers-julian-assange-and-the-right-to-know

18 Rosenbach/Stark, Staatsfeind Wikileaks, dva 2011, S.270

19 Guardian, 19.12.2010

20 https://wikileaks.org/ciav7p1/

21 https://news.yahoo.com/kidnapping-assassination-and-a-london-shoot-out-inside-the-ci-as-secret-war-plans-against-wiki-leaks-090057786.html

22 https://en.wikipedia.org/wiki/Grand_juries_in_the_United_States

23 https://www.spiegel.de/politik/ausland/guantanamo-militaergericht-soll-entlastungsmaterial-fuer-bremer-taliban-ignoriert-haben-a-348455.html
Guantanamo Bay gehört nicht zum US-Territorium, Argument für nicht notwendig anzuwendende Rechtsnormen.

24 DIE ZEIT / VERBRECHEN, 04.01.2024, Seite 16

25 Mahnwachen finden regelmäßig z.B. in Berlin, Hamburg, Frankfurt/Main, Cottbus, Bonn, Baden-Baden, Mannheim, Dresden, Bremen, Stuttgart, Leipzig, Bielefeld, Esslingen, Düsseldorf und München statt. https://freeassange.eu/#aktionsuebersicht

26 https://twitter.com/wikileaks/status/1502342338408030212