Anlässlich der bevorstehenden Fortsetzung des Schauprozesses gegen WikiLeaks-Gründer Julian Assange ab dem 07. September 2020 machen wir aufmerksam auf verschiedene Beiträge zu diesem historischen Fall. Hier die Übersetzung der Pressemitteilung des UN-Sonderberichterstatters über Folter, Prof. Nils Melzer, nach einem mehrstündigen Gespräch mit Julian Assange im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, London, im Mai 2019.

UN-Experte sagt, die „kollektive Verfolgung“ von Julian Assange muss jetzt enden

Genf (31. Mai 2019) – Ein UN-Experte, der Julian Assange in einem Londoner Gefängnis besucht hat, sagt, er befürchtet, dass seine Menschenrechte erheblich verletzt werden, wenn er an die USA ausgeliefert wird und verurteilte die absichtlichen und gezielten Misshandlungen, die dem Mitgründer von WikiLeaks jahrelang zugefügt wurden.

„Meine größte Sorge ist, dass Herr Assange in den Vereinigten Staaten einem realen Risiko ausgesetzt wäre, dass es zu schwerwiegenden Verletzungen seiner Menschenrechte kommt, einschließlich seiner Meinungsfreiheit, seines Rechtes auf einen fairen Prozess und des Verbots von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher und entwürdigender Behandlung oder Strafe“, sagte Nils Melzer, der UN-Sonderberichterstatter über Folter.

„Ich bin insbesondere beunruhigt über die kürzlich erfolgte Veröffentlichung des US-Justizministeriums von 17 neuen Anklagepunkten gegen Herrn Assange nach der Spionage Verordnung, die aktuell bis zu 175 Jahre im Gefängnis mit sich tragen. Dies kann sehr wohl zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe ohne Bewährung führen, oder möglicherweise sogar zur Todesstrafe, wenn weitere Anklagepunkte zukünftig hinzugefügt werden“, sagte Melzer, der bereits in der Vergangenheit Sorge um Assanges Gesundheit geäußert hatte.

Obwohl Assange nicht in Einzelhaft gehalten wird, sagte der Sonderberichterstatter, dass er extrem beunruhigt ist über die begrenzte Anzahl an erlaubten Besuchen von Anwält*innen und deren geringe Dauer. Außerdem hat Assange keinen Zugang zu seinen Fallakten und Dokumenten, was es ihm unmöglich macht, seine Verteidigung adäquat vorzubereiten, für jede der vor ihm liegenden komplexen Verhandlungen.

„Seit 2010, als WikiLeaks damit begann, Beweise über Kriegsverbrechen und Folter durch US- Truppen zu veröffentlichen, sehen wir ein ununterbrochenes und gezieltes Bestreben von etlichen Staaten, Herrn Assange an die USA auszuliefern, um ihn dort strafrechtlich zu verfolgen. Dies führt zu ernsthafter Sorge über die Kriminalisierung des investigativen Journalismus und den Bruch sowohl der US-Verfassung als auch der internationalen Menschenrechte“, sagte Melzer.

„Seitdem gab es einen unbarmherzigen und hemmungslosen Feldzug aus öffentlichem Mobbing, Einschüchterung und Diffamierung gegen Herrn Assange, nicht nur in den Vereinigten Staaten sondern auch in Großbritannien, Schweden, und seit kurzem auch in Ecuador.“ Dem Experten zufolge beinhaltete dies einen endlosen Strom an erniedrigenden, herabwürdigenden und bedrohenden Darstellungen in der Presse und den sozialen Medien, aber auch von führenden Politiker*innen und sogar von Richter*innen in den Verhandlungen gegen Assange.

„Im Laufe der letzten 9 Jahre war Herr Assange beständigen, fortschreitend schwerer werdenden Misshandlungen ausgesetzt von systematischer juristischer Verfolgung und willkürlicher Inhaftierung in der ecuadorianischen Botschaft bis zu seiner gewaltsamen Isolation, Drangsalierung und Überwachung in der Botschaft und von vorsätzlicher kollektiver Verhöhnung, Beleidigungen und Erniedrigungen bis zu offener Aufhetzung zu Gewalt und sogar wiederholten Rufen nach Attentaten auf ihn.“

Während seines Gefängnisbesuchs am 9. Mai wurde Melzer begleitet von 2 medizinischen Expert*innen, die darauf spezialisiert sind, potentielle Opfer von Folter und grober Misshandlung zu untersuchen.

Das Team konnte vertraulich mit Assange sprechen und eine gründliche medizinische Untersuchung vornehmen.

„Es war offensichtlich, dass die Gesundheit von Herrn Assange durch die extrem feindselige und willkürliche Umgebung sehr beeinträchtigt ist, der er für viele Jahre ausgesetzt war“, sagte der Experte. „Vor allem, und zusätzlich zu seinen physischen Beschwerden zeigte Herr Assange alle Symptome, die typisch sind für anhaltendes Ausgesetztsein von psychologischer Folter, inklusive extremem Stress, chronischen Angstzuständen und intensivem psychologischen Trauma.“

„Die Beweislage ist erdrückend und klar“, sagte der Experte. „Herr Assange wurde vorsätzlich über einen Zeitraum von mehreren Jahren fortschreitend schwerwiegenderen Formen von grausamer, unmenschlicher und entwürdigender Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt, deren kumulative Effekte nur als psychologische Folter beschrieben werden können.“

„Ich verurteile aufs schärfste die vorsätzliche, gezielte und anhaltende Art der Misshandlungen, die Herrn Assange zugefügt wurden und bedaure zutiefst, dass alle beteiligten Regierungen immer wieder darin versagt haben, Maßnahmen zum Schutz seiner fundamentalsten Menschenrechte und Würde zu ergreifen“, sagte der Experte.

„Indem sie im besten Fall gleichgültig handelten, und im schlimmsten Fall als Mittäter, haben diese Regierungen eine Atmosphäre von Straffreiheit geschaffen, die die hemmungslose Verleumdung und Misshandlung von Herrn Assange förderte.“

In offiziellen Briefen, die Herr Melzer Anfang dieser Woche verschickte, hielt er die vier beteiligten Regierungen dazu an, davon abzusehen, weitere Darstellungen und sonstige Aktivitäten zu unternehmen, anzustiften oder zu tolerieren, die für Assanges Menschenrechte und Würde nachteilig sind. Sie sollen außerdem Maßnahmen zur angemessenen Wiedergutmachung und Rehabilitierung für den angerichteten Schaden ergreifen. Weiterhin rief er die britische Regierung dazu auf, Assange nicht an die USA oder irgendeinen anderen Staat auszuliefern ohne verlässliche Garantien gegen seine weiteren Transfer in die Vereinigten Staaten. Er erinnerte Großbritannien außerdem an die Verpflichtung, sicherzustellen, dass Assange ungehinderten Zugang zu Rechtsberatung, Unterlagen und adäquater Vorbereitung hat, die der Komplexität der bevorstehenden Verhandlungen angemessen ist.

„In den 20 Jahren, in denen ich mit Kriegsopfern und Opfern von Gewalt und politischer Verfolgung arbeite, habe ich noch nie eine Gruppe von demokratischen Staaten gesehen, die sich verschwören, um über so einen langen Zeitraum und mit so wenig Respekt vor Menschenwürde und dem Gesetz gezielt und bewusst ein einziges Individuum zu isolieren, dämonisieren und zu misshandeln“, sagte Melzer. „Die kollektive Verfolgung von Julian Assange muss hier und jetzt aufhören!“

Englischer Original-Text